Stanisław Lem, Summa technologiae

S

Wie kann man zwischen Realem und Virtuellem unterscheiden? Stanisław Lem diskutiert in seiner Summa technologiae diese Frage.

Sein Gedankenspiel geht von einer perfekten Simulationsmaschine aus.

„Das Prinzip […]: Der Mensch ist […] mit einer Umwelt verbunden, die von der phantomatischen Maschine imitiert wird.“1

Lem, Phantomatik I, in: ders., Stanisław Lem, Die Entdeckung der Virtualität , S.151-221, S.162f.
Phantomatik. person using Geadset
Photo by Stella Jacob on Unsplash

„Die Phantomatik ist eine Technik, die Phantomologie hingegen eine Disziplin, die der Erforschung aller Konsequenzen, die sich aus der Anwendung eben jener Technik ergeben, gewidmet ist.“2

Lem, Phantomatik II, in: Lem, Die Entdeckung der Virtualität, S.222f.

Cyberspace und Virtualität

Als Cyberspace “ […] um die menschlichen Sinne herum aufgebaut“5, wird Virtualität abgesetzt von Realität und alltäglicher Wirklichkeit. Ein Seitenblick auf Stanisław Lem ist gerade deshalb so interessant, weil er aus seiner futurologischen Sicht etwaige momentane technische Schwierigkeiten so weit wie möglich ausblendet. Seine Gedanken kreisen in viel weiteren und größeren Bahnen um das Problem der Virtualität; seine Romane erschließen dieses Themengebiet auch in literarischer Hinsicht.

„Phantomatik bedeutet, daß eine Situation geschaffen wird, in der es aus der Welt der erzeugten Fiktion keine »Ausgänge« in die reale Welt gibt.3

Stanisław Lem, Summa technologiae, S. 328
Phantomatik. virtual reality
Photo by Stella Jacob on Unsplash

Phantomatik

 

„Das Fachgebiet, das wir untersuchen wollen, nennt sich Phantomatik; sie ist die Vorstufe zur Schöpfungstechnik. […] Ist es möglich, eine künstliche Realität zu schaffen, die der natürlichen vollkommen ähnlich ist, sich jedoch von ihr in keiner Weise unterscheiden läßt? Die erste Frage [nach der Schöpfung von Realität] betrifft die Erzeugung von Welten, die zweite die von Illusionen. Allerdings von perfekten Illusionen. Übrigens weiß ich nicht, ob man sie lediglich als Illusionen bezeichnen kann.“3

Stanisław Lem, Summa technologiae, S.321

Um zurück zum Thema zu kommen, wollen wir sogleich die erste Einordnung der Phantomatik6 betrachten: sie sei eine Vorstufe zur Schöpfungstechnik.

Damit ist der weitere Rahmen ausgedrückt, innnerhalb dessen auch heute über Virtualität gesprochen werden müßte. Es geht nicht bloß um künstliche Welten in einem simulierten und bloß äußerlichen Sinn, also nicht bloß um künstliche Welten.

virtuelle Realität & virtuelle Realität

In einem weitergehenden Sinn müssen wir uns auch Gedanken machen über künstliche Welten, d.h. über erschaffene Welten. Mit anderen Worten: Lem thematisiert hier die Spannung zwischen virtueller Realität und virtueller Realität, zwischen realer Welt und fiktiver Welt, zwischen Illusion und Echtheit.

Es ist hier das Problem angesprochen, wie man perfekte Illusionen von Realität unterscheiden könne. Es spricht für die Redlichkeit von Lem, dass er offen seinen Zweifel darüber äußert, wie perfekte Illusionen einzuschätzen seien.

Wir stehen mit Lem vor dem schon oben offensichtlich gewordenden Paradoxon, dass man mit einem Gegensatz von Virtualität und Realität nicht weiter kommen kann, denn wie sollen beide Sphären voneinander geschieden werden?

Bernd Flessner sieht in diesem Zwiespalt das Hauptthema von Lem:

„[…] wie man zwischen Realem und Fiktivem unterscheiden kann […] Nicht nur in vielen Texten Lems wird diese Frage zur Kernfrage, sie ist längst zu einer fundamentalen Frage unserer Gegenwart gediehen, denn […] die Interferenz von Fiktivem und Realem ist nicht erst Folge von Computersimulationen oder Cyberspace. Schon die simple Reproduktion unserer Welt durch die bisherigen Medien bewirkt eine graduelle Entwirklichung.“7

Flessner, Archäologie im Cyberspace, in: Stanisław Lem, Die Entdeckung der Virtualität; Frankfurt a.Main 1996, S.7-22, S.14f

Hier wird natürlich ein nochmals erweiterter Rahmen genannt: wie steht Virtualität im großen Kontext der Medienentwicklung? Auf eine Erörterung dieser Problematik müssen wir leider verzichten, obgleich dem große Bedeutung zuzumessen wäre.8

Virtualität & Medien

Rekapitulieren wir, in welche Bereiche Lem Phantomatik (und d.i. Virtualitätstechnik) verlegt. Sie ist eine Vorstufe der Schöpfungstechnik und der Kreation wirklicher Welten. Außerdem versucht sie, perfekte Illusionen, also Virtualität, zu produzieren. Gemeinhin werden Simulationen in Analogie zur ‚natürlichen‘ Sinneswahrnehmung geplant.

Die virtuelle Realität wird durch Stimulation der Sinnesorgane erzeugt. Für Stanisław Lem ist dies nur eine Möglichkeit der Phantomatik,

„[…] denn hier sprechen wir nur von der »peripheren Phantomatik«, die »von der Peripherie« des Körpers aus hervorgerufen wird, da ja das Hin und Her der Impulse sich in den Nerven abspielt und nicht unmittelbar in die zerebralen Prozesse eingreift.“9

Lem, Summa, S.332

Lem würde also in der heutigen V.R.-Technik, mit Daten-Brillen, Daten-Handschuhen usw., einen großen Mangel sehen, nämlich dass diese noch eine über die Sinne vermittelte virtuelle Realität erzeuge.

Simulierte vs konstruierte Wirklichkeit

Daraus folgt, dass es noch eine andere Weise geben müsse, um unmittelbar Realität zu erzeugen, nämlich durch Umgehung der Sinnesorgane und direktes Eingreifen in die zerebralen Prozesse. Hier spiegelt sich noch einmal unser Gang von Virtualität als simulierte Wirklichkeit zu Virtualität als konstruierte Wirklichkeit.

In einem Sinn, der dem von uns skizzierten konstruktivistischen Ansatz ähnelt, spricht Lem vom Gegentypus der peripheren Phantomatik:

„In unserem Klassifikationssystem gehört die periphere Phantomatik in den Bereich der mittelbaren Einwirkung auf das Gehirn, da die phantomatisierenden Reize lediglich Informationen über Tatsachen liefern; in analoger Weise wirkt ja auch die Realität. Sie determiniert immer nur die äußeren, nicht aber die inneren Zustände […] Möglich wäre auch eine »zentrale Phantomatik«, d.h. eine unmittelbare Reizung gewisser Hirnzentren, die angenehme Gefühle oder Lustempfindungen hervorruft.10

Lem, Summa, S.343

Periphere Phantomatik als Simulation der Wirklichkeit

Die periphere Phantomatik entspricht der Simulation der Wirklichkeit, die über die Sinnesorgane verfährt und so virtuelle Welten eröffnet. Die zentrale Phantomatik greift unmittelbar in die Gehirnprozesse ein, sie konstruiert gleichsam mit und durch unser Gehirn eine künstliche Welt. Hier offenbart sich nun die Systematik, um derentwillen wir diesen Exkurs veranstalteten. Die Phantomatik, d.h. die Techniken zur Erzeugung virtueller Realitäten, lassen sich in zwei Klassen einteilen:

  1. periphere Phantomatik11, die über Stimulation der Sinne verfährt, ergo vermittelt
  2. zentrale Phantomatik12, die über den Eingriff in das Gehirn funktioniert, ergo unvermittelt

So schön diese Einteilung auch scheinen mag, sie hat doch einen bitteren Haken. Es ist nämlich nicht gesagt, dass selbst die sogenannte „unvermittelte“ Phantomatik eine unvermittelte ist.

Sie reicht nämlich nur bis zur objektiv meßbaren Reizung des Gehirns, sie gelangt aber nicht hinter das objektivierbare Gehirn, nämlich zum subjektiven Eindruck und dem subjektive Erleben. Dieses subjektive Moment stellt eine beinahe unhintergehbare Transzendenz13 dar.

Für den menschlichen Verstand stellt bereits die über Datenbrillen vermittelte V.R. eine enorme Hürde dar, denn sein gewohntes Realitätsverständnis wird dadurch auf eine Probe gestellt.

„Durch die periphere Phantomatik wird der Mensch in eine Welt von Erlebnissen geführt, deren Nichtauthentizität unmöglich aufzudecken ist.“14

Lem, Summa, S.345

Mit der Frage nach dem Realitätsgehalt von Illusionen stellt sich bald die Frage nach der Realität selbst ein.

Was ist Realität?

Die Gedanken kreisen bald um einige wenige feste Topoi:

„Die Frage, wie man den fiktiven Charakter der phantomatischen Vision erkennen kann, entspricht prima facie der Frage, die sich zuweilen der Träumende stellt. Bei manchen Träumen kann man sich nicht des überwältigenden Gefühls erwehren, daß das, was in Ihnen geschieht, real ist […] Die phantomatische Vision tritt – im Unterschied zum Traum- im Wachzustand auf. Nicht das Gehirn des Phantomatisierten erzeugt die »anderen Personen«, die »anderen Welten«, sondern die Maschine.“15

Lem, Summa, S.332

Mit beständiger Regelmäßigkeit kehrt in Diskussionen um V.R. der Traumvergleich auf16. Diesen Punkt möchte ich hier nicht eigens aufwälzen, sondern auf die merkwürdige Verlagerung der „Produktionsstätte“ von virtueller und phantomatischer Realität: nicht das Gehirn erzeuge mehr die Welt, sondern die Maschine. Futurologisch entwickelt Lem seine Gedanken in die Zukunft:

Der Traum als Prototyp

In den Bereichen, die seinem Intellekt noch zugänglich sind, wird der Mensch wahrscheinlich die Maschine lediglich als Sklave benützen, der für ihn die arbeitsintensiven Hilfsoperationen ausführt (das Zählen oder die Bereitstellung gewünschter Informationen), sie wird als »Hilfsgedächtnis« oder als »Assistent für Einzeloperationen« dienen. Wo sein Intellekt nicht mehr ausreicht, wird die Maschine ihm fertige Modelle, fertige Theorien liefern.“17

Lem, Summa, S.236f

Lem skizziert hier die heutige Bedeutung von Maschinen und Computern, die alle Arbeitsvorgänge unterstützen und erleichtern. Doch sie können auch dem Menschen Gebiete erschließen, die seiner natürlichen Ausstattung unzugänglich sind.

Dies geschieht heute allerortens, man braucht nur an die Teleskope, die Mikroskope denken, die dem Menschen unsichtbare Bereiche erschließen, Infrarotgeräte, Ultraschallmesser, Radios, Fernsehen usw.. Die Liste ließe sich endlos fortsetzen. Als die vielleicht wichtigste und momentan umfassendste Kulturtechnik soll noch die Schrift erwähnt sein.18

Lem stellt die Maschine und technische Entwicklung in Analogie zur Evolution der Kultur:

Jede Zivilisation schafft sich eine künstliche Umgebung, indem sie die Oberfläche ihres Planeten, dessen Inneres und die kosmische Nachbarschaft umgestaltet. Dieser Prozeß schafft keine grundsätzliche Trennung zwischen ihr und der Natur, sonder vergrößert lediglich die Distanz zwischen beiden. Man kann ihn allerdings in der Weise fortsetzen, daß es zu einer eigentümlichen »Abkapselung« der Zivilisation gegenüber dem gesamten Kosmos kommt […] Die so geschaffene »Abkapselung« bedeutet die Errichtung einer »Welt in der Welt«, einer autonomen zivilisatorischen Wirklichkeit, die mit der materiellen Wirklichkeit der Natur nicht unmittelbar zusammenhängt. Die entstandene »kybernetisch-soziotechnische« Kapsel umschließt eine Zivilisation, die weiter existiert und sich entwickelt, aber nur in einer Weise, die für einen äußeren (insbesondere astronomischen) Beobachter nicht mehr wahrnehmbar ist.“19

Lem, Summa, S.148f

 

Letztere Behauptung schuldet sich dem Umstand, dass Lem hier von einer Zivilisation spricht, die ähnlich wie im Film „Matrix“ organisiert ist. Die Leute sind in „Kapseln“ eingeschlossen, so dass sie von außen nicht mehr beobachtbar sind. Was hier viel aufschlußreicher scheint, ist die Auffassung der kulturellen Entwicklung als technischer Entwicklung. Der Mensch verändert mit seiner Technik die Umwelt, um in ihr Leben zu können.

Künstliche Welten

Er erstellt mit Hilfe der Maschinen künstliche Welten, und entfernt sich von der Natur. Das interessante dieser Skizze ist die Art und Weise, wie hier von „künstlicher Umwelt“ und einer „Welt in der Welt“ gesprochen wird. Wir können hier getrost eine Parallele zu virtuellen Welten ziehen, die gleichfalls eine „künstliche Umwelt“ bilden. Wagen wir ruhig die These, die jetzt näher als zuvor liegt:

Die von der herkömmlichen Technik und den herkömmlichen Maschinen produzierte Kultur20 scheint in merkwürdiger Entsprechung zum Phänomen von virtuellen Welten. Ist etwa alle Kultur ein Produkt der Phantomatik? Wird erst heute sichtbar, dass jede Maschine im Grunde eine phantomatische ist?

Virtualität der Kultur?

Ist Kultur im Ganzen eine Virtualität? Eine Sphäre der Vorstellung(en), produziert von der „technischen Natur“ des Menschen? Ein Geflecht von Monaden? Ist die gesamte Kultur eine Seifenblase tradierter Vorstellungen, die niemals nach draußen dringen können? Ist alles virtuell, die Wirklichkeit unerreichbar, aber real? Ist alles bloße Konvention der Vorstellung?

„Folgt man der Lemschen Definition, so ist Cyberspace lediglich eine dieser Varianten, eine Ebene der palimpsestisch strukturierten Wirklichkeit, die den tradierten Wirklichkeitskonsens ablöst.“21

Flessner, Archäologie im Cyberspace, S.20

Cyberspace

Cyberspace im engeren Sinne, in der Bedeutung von „durch Rechner simulierte Wirklichkeit“ wäre also eine Ebene der Wirklichkeit, die sich heutzutage in den Bereich der herkömmlichen Wirklichkeitsvorstellungen eingliedert22. Das Problem der Virtualität scheint jedoch ein viel weiteres zu sein. Es umfasst die gesamte Kultur. Ist alles durch Produktion hergestellte virtuell?

Um diesen Gedankengang von einer anderen Seite her durchsichtig zu machen, wollen wir zunächst an das Lemsche Effektoren-Schema erinnern, mit dem er alle Maschinen in ein System bringt23. Mit einem sogenannten Homöostaten, d.i. eine kybernetische Maschine mit freiem Willen24, führt Lem ein Gedankenexperiment durch:

„Ähnlich wie der Mensch sich aus einer Reihe von hierarchisch an das Gehirn »angeschlossenen« Subsystemen zusammensetzt, wird jeder dieser Homöostaten unterschiedliche rezeptorische (Eingänge, »Sinne«) und effektorische (Ausgänge, Effektoren, z.B. Fortbewegungssysteme) Subsysteme sowie ein eigentliches »Gehirn« besitzen […] Zu Beginn seiner Aktivität wird der Homöostat leer sein wie ein unbeschriebenes Blatt. Dank seiner »Sinne« wird er die Umgebung wahrnehmen und dank der Effektoren sie beeinflussen können […] Der Homöostat erkennt, daß sein Wissen nur angenähert und unvollständig sein kann. Das natürliche Streben nach exaktem und vollständigem Wissen wird ihn zu einem solchen »metaphysischen Modell« bringen[…]; da aber ein solches Wissen auf empirische Weise nicht erreicht werden kann, wird der Homöostat seine Realisierung aus der eigenen materiellen Existenz hinausverlagern. Er wird, kurz gesagt, zu der Überzeugung gelangen, er besitze eine »Seele«[…]“25

Lem, Summa, S.212f

Lem skizziert hier mit einigen Anspielungen den Entwicklungsgang eines Homöstaten, der auf der Suche nach Gewißheit auf die Überzeugung verfällt, er besitze eine Seele. Abstrakter gesprochen ist es der bekannte Schluß auf eine Ursache, der in metaphysischer Manier zu bestimmten Vorstellungen und Überzeugungen führt. Das Funktionsprinzip, der „Algorithmus“ des Roboters liegt für ihn im Dunklen, da er ja beständige Voraussetzung seines „Denkens“ ist26.

Lem führt deshalb dieses Beispiel weiter:

Apparat Mensch

Demnach ist also jeder Mensch ein hervorragendes Beispiel eines Apparats, dessen wir uns bedienen können, ohne seinen Algorithmus zu kennen. Einer der »uns am nächsten stehenden Apparate« im ganzen Kosmos ist unser Gehirn, denn wir haben es ja im Kopf. Trotzdem wissen wir bis zum heutigen Tage nicht genau, wie dieses Gehirn funktioniert. Seine Mechanismen introspektiv zu erforschen, ist, wie die Geschichte der Psychologie zeigt, in höchstem Maße trügerisch und führt zu den allerverkehrtesten nur denkbaren Hypothesen. Das Gehirn ist so gebaut, daß es, während es uns das Handeln erleichtert, gleichzeitig »im verborgenen« bleibt.“27

Konstruktion von Realität

Mit dieser Äußerung kehren wir wieder in den Bereich der Konstruktion von Realität zurück, die schon vorgängig von unserem Gehirn konstituiert und konstruiert ist. Wieder tauchen die Schwierigkeiten auf, woher denn die Reize kommen, die unser Gehirn zur Konstruktion bewegen. Es liegt im Dunkel, das Auge kann sich unmöglich selbst erblicken, unser Zugang zur Welt unmöglich sich direkt erscheinen.

Nachdem wir eine einigermaßen sichere Annäherung an das Problem der Virtualität vollzogen zu haben meinten – wieder treiben wir zum ewig sich drehenden Malstrom der Frage nach dem Wesen der Virtualität, in dem zwar vieles Treibgut herumgetreibt, das jedoch einen festen Anhalt mitnichten bietet.

Lassen wir also die Hoffnung auf ein stillstehendes Floß fahren und taxieren wir nochmals die Situation. Versetzen wir uns noch einmal in die Lage des Verkabelten, der in einer virtuellen Welt einige Abenteuer erlebt. Er begegnet Personen; eine ganze Welt.

Natürlich haben sowohl die »Vernunftwesen« wie auch ihre »Welt« in diesem Beispiel nichts mit den materiellen Bedingungen unseres Alltagslebens zu tun, sondern bestehen lediglich in einer gewaltigen Menge von (elektrischen, atomaren) Prozessen, die in der Maschine auftreten; aber wie soll man sich das vorstellen? Man kann es vergleichen mit der »Verlegung« der Wirklichkeit in das Gehirn eines schlafenden Menschen. Sämtliche Gegenden, Parks und Schlösser, die er besucht, befinden sich ebenso in seinem Kopf wie sämtliche Leute, denen er im Traum begegnet; sein Gehirn ist somit eine annähernde Entsprechung unserer »Weltmaschine«, denn in beiden Fällen kommt es dank gewisser (biochemischer, elektrischer) Prozesse zu einer Aufteilung der Phänomene in eine »Umgebung« und die in ihr lebenden »Organismen«. Der einzige Unterschied ist, daß der Traum Privatsache des Einzelnen ist, während das, was sich in der Maschine abspielt, von jedem Fachmann kontrolliert und untersucht werden kann.“28

Lem, Summa, S.213f

Traum und phantomatische Maschine

Lem vergleicht hier den Vorgang der Simulation in phantomatischen Maschinen mit dem Vorgang des Träumens im schlafenden Menschen. Beide Male sind es elektrische oder biochemische Prozesse, die virtuelle Welten dergestalt codieren, dass sie nur die „Teilnehmer“ je für sich entcodieren. Dass der Fachmann die Vorgänge in den Maschinen einsehen mag, ist wohl wahr, Aber auch ein Hirnforscher wird die materiellen Vorgänge im Gehirn eines Schlafenden einsehen können. Dennoch weiß dieser nicht, was in den träumenden Menschen tatsächlich vor sich geht, und weiß jener, was in den Maschinen vor sich geht?

Mit dieser Frage verlassen wir den irisierenden Planeten der Summa technologiae voll Staunens.

Ich freue mich auf deine Kommentare!

————————————————————————————————————————————————

Fussnoten

1 Stanisław Lem, Summa technologiae, Frankfurt a.Main 1981, S.321. In seinem theoretischem Hauptwerk versucht der polnische Schriftsteller die Entwicklungsperspektiven der Wissenschaft aufzuzeigen. Die Doppelhelix, um die das Buch kreist, ist die Kontraposition von Natur und Technik bzw. Kultur, deren Evolution in strenger Engführung vorgestellt wird. Unter diesem Gesichtspunkt, nämlich der Entwicklungsmöglichkeiten der Wissenschaft, wird die Zukunft der Zivilisation betrachtet. In diesem umsichtigen Buch werden ohne dogmatische Verhärtungen und in einem nüchternen Ton diejenigen Angelegenheiten erörtert, die uns nach wie vor in intellektuelle Schwierigkeiten bringen: Gen- und Seelentechnik, Virtualität, Informationszüchtung und Beherrschung der Natur, um nur einige Aspekte zu erwähnen.

2 Lem, Summa, S.328

3 Lem, Phantomatik I, in: ders., Stanisław Lem, Die Entdeckung der Virtualität , S.151-221, S.162f. Dieser Aufsatz ist nach den Worten des Autors eine Zusammenfassung der entsprechenden Kapitel in der Summa technologiae.

4 Lem, Phantomatik II, in: Lem, Die Entdeckung der Virtualität, S.222f. Deshalb sprechen wir im folgenden zwar beständig von Phantomatik, betreiben aber Phantomologie.

5 Steve Aukstakalnis/David Blatner, Cyberspace. Die Entdeckung künstlicher Welten, Köln 1994, S.9

6 Phantomatik ist die Technik zur Kreation künstlicher Welten, die illusionären Charakter haben. Diesem Thema widmet Lem das sechste Kapitel seiner Summa technologiae Phantomatik (S.319-370), während das folgende Kapitel die Erzeugung von Welten (S.393-494) beschreibt.

7 Flessner, Archäologie im Cyberspace, in: Stanisław Lem, Die Entdeckung der Virtualität; Frankfurt a.Main 1996, S.7-22, S.14f

8 Es wäre heute eine nicht zu unterschätzende Aufgabe, die mit dem linguistic– bzw. medial-turn eingetretene Thematisierung und Relativierung der Erkenntnis und des Wissens, und die Einsicht in die sprachlichen und medialen Voraussetzungen jeder Erkenntnis, zu einem fruchtbaren Prinzip der Philosophiegeschichtsschreibung werden zu lassen. Meines Erachtens bildet gerade die Geschichte der Philosophie für unsere heutige Virtualitätsproblematik – und nicht nur dafür- eine wahre ARMADA versunkener Erkenntnisse, deren Schätze und Juwelen endlich gehoben werden müßten. Die Lektüre der gesamten Geschichte der Philosophie unter dem Primat des offenen Konfikts um Wirklichkeit und virtuelle Wirklichkeit ist noch bloßes Desiderat. Vorliegende Arbeit stellt den Versuch dar, exemplarisch diese Methode auf einen Autor anzuwenden. Sie versucht nach einer Darstellung der Problemstellung, u n t e r , oder h i n t e r , -oder, wer auf solche metaphysischen Metaphern verzichten möchte, i n den verwendeten Begriffen der Philosophie Merleau-Pontys, die Frage nach Wirklichkeit und Virtualität offen zu legen. Nachdem die Phänomene d u r c h die originalen Begriffe ans Licht getreten sind, werden sie mit heutiger Terminologie in ein Gegenlicht gesetzt, so daß in vielfältigen Licht- und Schattenspielen das Relief heutiger Wirklichkeit aufscheint.

9 Lem, Summa, S.332

10 Lem, Summa, S.343

11 Man möge sich die Formulierung von Lem auf der Zunge zergehen lassen: „in analoger Weise wirkt ja auch die Realität.“

12 Lem denkt sogar an eine noch weitergehende Stufe der zentralen Phantomatik, die dann aber Cerebromatik hieße: der Umbai der neuronalen Strukturen von Menschen (ebd., S.176ff)

13 Wir verwenden dieses Wort in einer rein anzeigenden Verwendungsweise und unterlassen jede dogmatische Aufladung der Bedeutung. Erwähnen möchten wir mit einer Gedichtzeile von Günter Eich trotzdem, wie weit sich das Feld hinter der objektiven Meßbarkeit von Gehirnströmen noch öffnen kann: Der Wald hinter den Gedanken,/ die Regentropfen an ihnen/ und der Herbst, der sie vergilben läßt-// ach Himbeerranken aussprechen,/ dir Beeren ins Ohr flüstern,/ die roten, die ins Moos fielen.// Dein Ohr versteht sie nicht, mein Mund spricht sie nicht aus,/ Worte halten ihren Verfall nicht auf.// Hand in Hand zwischen undenkbaren Gedanken./ Im Dickicht verliert sich die Spur./ Der Mond schlägt sein Auge auf,/ gelb und für immer. (Günter Eich, Himbeerranken, in: Botschaften des Regens (EA 1955), Frankfurt a. Main 1996, S.58

14 Lem, Summa, S.345

15 Lem, Summa, S.332

16 Dies wäre eine eigene Untersuchung wert, bestätigt aber auch die These, daß die Philosophiegeschichte viele Themen der V.R.-Debatte bereits erschöpfend behandelt hat, bzw. diese Phänomene sogar grundgelegt hat.

17 Lem, Summa, S.236f

18 In philosophisch relevantem Sinn tritt sie bereits bei Platon im Phaidros (274c ff) als »Hilfsgedächtnis« in Erscheinung, dort kritisch betrachtet.

19 Lem, Summa, S.148f

20 Kultur in dem Sinn einer „Gesamtheit der geistigen und künstlerischen Errungenschaften einer Gesellschaft“ (Wahrig. Die deutsche Rechtschreibung, Gütersloh/München 2003, S.616)

21 Flessner, Archäologie im Cyberspace, S.20

22 Mit Flessner läßt sich der Charakter von Lems Analysen auch so fassen, dass sie „die zentrale und existentielle Frage nach dem Sinn der technisch aufwendigen Industrialisierung der Phantasie, deren jüngster Triumph der Cyberspace ist“(ebd.) stellt. Ich möchte vielleicht so sagen: Cyberspace ist die Verlagerung der Phantasie in einen technischen Apparat, dessen Strukturen wir bei der Herstellung von Vorstellungen durchschauen und herstellen müssen, während die eigene Phantasie oftmals dunklen Ursprüngen entspringt.

23 Vgl. Lem, Summa, S. 23ff

24 „Die Homöostaten werden vielmehr fähig sein, sich selbst zu progammieren, werden also die Fähigkeit besitzen, ihre Ziele selbst zu verändern, eine Fähigkeit, die das kybernetische Äquivalent des »freien Willens« ist“. Lem, Summa, S.211f

25 Lem, Summa, S.212f

26 Diese kybernetischen Maschinen betreten den Bereich der heutigen KI-Forschung

27 ebd., S.167f

28 Lem, Summa, S.213f

About the author

Herbert

Ph.D. in philosophy, author, wine expert, former poker professional, and co-founder of 11Heroes.com. On Griffl, I discuss Instructional Design & AI tools.

Add comment

By Herbert

Get in touch

I'm always happy to hear from you! Feel free to reach out to me with any questions, comments, or suggestions.

Latest

Tags